Ich landete 1960 im Sommer als 18-jähriger im sog. ‘Überseewohnheim’ der ‘Deutschen Werft’ in Hamburg Finkenwerder. Das war ein hübsches Barackenlager im Finksweg 57. Und zwar landete ich dort ursprünglich deswegen, weil ich in der Hamburger Ausweich-Jugendherberge Waltershof übernachtete, halbwegs gegenüber der Anlegestelle Finkenwerder des kleinen Fährschiffes von und nach Hamburg-Landungsbrücken. Jemand klaute mir allerdings in dieser Jugendherberge nachts meine Schuhe, so dass ich monatelang nur in einem paar Reserve-Schuhe rumlief und arbeitete, die dann entsprechende Geruchsprobleme erzeugten. - Denn Geld für neue Schuhe war damals eine ziemlich rare Angelegenheit für mich. Das war praktisch nicht existent! - Und ich denke, für die meisten Bewohner des romantisch klingenden ‘Überseewohnheims’ genauso wenig. - Das waren junge Männer, die auf der ‘Deutschen Werft’ arbeiteten, die damals ein riesiges Areal einnahm (heute teilweise Europa-Center). - Ich selber arbeitete zunächst bei der Reparaturwerft als Hilfsschlosser, wo ich die allerersten Grundlagen des Schlossers erwarb. Dieses hier erworbene Können hat sich übrigens im späteren Leben bei praktischen Arbeiten immer wieder bewährt. Später startete ich noch einen Lehrgang zum Schweißer, den ich aber nicht beendete. Der Lohn war damals generell 3.Welt-Niveau: für mich auf der Werft die Stunde 1,59 DM also in heutiger Währung 0,80 €. Ein gelernter Schlosser bekam 2,50 DM. - Allerdings war meine Unterkunft im Überseewohnheim ziemlich günstig, nämlich 7 Mark die Woche. Sonst müßte man normalerweise so 60-150 Mark Miete für ein Zimmer pro Monat zahlen (mit ein paar alten Möbeln, und ohne Bad und Küche + evtl. 1 Kohle-Ofen zum selber Heizen).
Wenn mich nicht alles täuscht, war das hintere Gebäude eine Seefahrtschule
Hier noch mal die Schiffahrts-Schule in voller Pracht, mit ihrem zugehörigen-Schiffsmast im Park, samt Spielplatz mit Bänken:
Zwei Bewohner des Übersee-Wohnheims. Rechts ist Herbert, mein Zimmergenosse. Er war aus Emden und von Beruf Schiffs-Schlosser. Er fuhr auch schon zur See. Jetzt war er als Schweißer beim Neubau von Schiffen auf der Deutschen Werft tätig. Sein Spezialgebiet als Schweißer waren “Hals-über-Kopf-Nähte”. Der linke Kollege könnte vielleicht eine Art ausländischer Ingenieurs-Praktikant auf der Werft gewesen sein.
Hier nochmals mein Freund & Zimmerkumpan Herbert, etwas deutlicher
Ich selber im Übersee-Wohnheim, mit Pfeife, Bart, Seemanns-Pullover (“Elbe Troyer”) und Khaki Hose
Noch ein Kollege vom Übersee-Wohnheim
Fähr-Anlegestelle Finkenwerder. Die entsprechend dem Wasserstand bewegliche Brücke zur Fähre heißt witzigerweise “Dampferbrücke”. Die Motor-Fähre hier nennt sich “Cuxhaven”. Die Fähren verkehrten - glaube ich - normalerweise werktags im 1/4-Stunden Takt morgends um 5 bis Abends um 11. Finkenwerder war die vorletzte Station, dann kam Waltershof, dort drehte sie und fuhr wieder zurück zum breiten Strom der Elbe flußaufwärts Richtung Hamburg-Landungsbrücken. Dauerte ca. eine 1/2 Stunde. - Auch heutzutage gibt es noch diesen Fährverkehr.
Die Elbe bei Finkenwerder - Blick stromaufwärts Richtung Hamburg-Zentrum. An dieser wunderschönen Stelle mit den Bänken (‘Gorch-Fock-Park’) war ich auch verschiedentlich noch in den späten 60er Jahren aus Andenkensgründen. - Das markante Gebäude rechts hat eine große Uhr an seinem Turm. Es nennt sich “Hafenlotsenbrüderschaft Hamburg”. Auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe ist die berühmte Elbchaussee mit ihren prächtigen Villen. - Rechts die Einbuchtung führt in den ‘Köhlfleet’ wo auch die Anlegestelle der Fähre in Finkenwerder ist.
Die Landungsbrücken im Zentrum Hamburgs, mit ihren Fähren. Der Landungsbrückenturm (“Pegelturm”) steht auf der gleichen Sicht-Linie wie der Michel.
Landungsbrücken um 1900 von der Landseite aus.
Landungsbrücken bei St.-Pauli / ca. 1890 - 1900 / Quelle: Library of Congress. (Siehe Wikimedia)
Der Michel 1960 und die breite Hauptstraße B4 (heute 4-spurige Schnellstraße). Man beachte den Wahnsinns-Verkehr zu jener Zeit!
Zurück zur Elbe. Damals gab es noch die Stülckenwerft halbwegs gegenüber den Landungsbrücken. Weit in die Stadt hinein hörte man von hier aus das Zusammen-Nieten der Stahlteile von den Schiffsneubauten - und zwar bis in die Nacht. Es war gewissermaßen die klassische Hamburger Hafenmusik. - Vor der Neubauwerft (mit den Drahtseilen der Kabelkrananlage über der Helgenanlage) liegt übrigens in der Elbe ein Reparaturdock mit einem - für damalige Verhältnisse - mittelgroßen Schiff darin.
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Abgesehen von der Arbeit auf der Werft gab es für uns (speziell für meinen Stubenfreund Herbert und mich) ein paar Rituale in Finkenwerder: möglichst billig einkaufen, z.B. einen Kringel Blutwurst für 50 Pfennig hab ich noch gut im Gedächtnis, den man normal nicht essen konnte. Man musste ihn braten. Aber Holla: die Blutwurst knallte und explodierte in der Pfanne, weil in der Blutwurst Rosinen waren, die dann kreuz und quer aus der Pfanne schossen. - Es war wirklich das Billigste vom Billigen. - Außerdem kaufte ich für mich noch süßen Muskateller-Wein zum Fusel-Preis von 1,50 DM die 3/4 Liter Flasche.
Abends gingen wir mal zu “Fock”, einen halben Liter Bier trinken, oder zu “Amanda” wenn’s Freitags Geld gab, oder zu “Franz”, dessen Laden auch “Zum Schlappen Titt” genannt wurde. Dann wurden die paar Mark Überschuss, die man sich noch für die volle Freitag-Abend-Kneipe leisten konnte, gnadenlos auf den Tisch gehauen. (Glas Bier 40 Pfennig, 1/2 Liter 80 Pfennig).
(von der Million Hektoliter ging ungefähr einer davon durch unsere Kehlen)
Ausrüstungskai der Deutschen Werft am Steendiekkanal. (Beachte auch das Übersichts-Foto von 1932) Hier wurden die Schiffsneubauten im Inneren fertig gestellt (Elektrokabel verlegen, Kabinen einrichten usw. usw.)
Der Tanker Esso Nürnberg am Ausrüstungskai. Im Hintergrund ist das Verwaltungsgebäude und rechts davon die Helgen-Anlage der DW (Deutsche Werft)
Hier sieht man das Hinterteil der Esso Nürnberg und weit im Hintergrund rechts den Reparaturbetrieb der DW mit Schwimmdock in der Elbe. Dort habe ich Anfangs als Hilfs-Schlosser gearbeitet - dabei zwar wenig verdient, aber viel gelernt. - Um vom Eingang der Werft (am Start des Steendiekkanals) durch die Rüsch-Halbinsel zu meinem Arbeitsplatz zu laufen (fahren konnte man nicht) brauchte ich gut & gern 1/2 Stunde. Dabei lief ich bevorzugt am Ausrüstungkai entlang.
Mein Tagesausweis zwecks Arbeits-Einstellung bei der DW am 29.06.1960. - Insgesamt arbeitete ich auf der DW bis 8.August. Meinen Schweißerlehrgang begann ich am 21.Juli. Also ca. 3 Wochen als Schlosser-Gehilfe und ca. 2 1/2 Wochen als Schweißer-Lehrling. Rein subjektiv war diese Zeit für mich aber wesentlich länger, vermutlich weil ich sehr viel Neues kennenlernte. - Ab Mitte August war ich wohnungslos hatte aber dann noch immer mit Finkenwerder zu tun (z.B. 2x dort noch 1 Zimmer und 1 Freundin Hannelore). Im November wohnte ich kurze Zeit in Hamburg-St.Pauli (am Pinnasberg 8) bevor ich meine Zeit in Hamburg beendete.
Da gab es in der Wüstenei der Werft eine (typische) Gerümpelhütte, eine Art kleines Zentrum für Schweißer, links von der Helgenanlage der Werft, wenn man Richtung Elbe schaut. Hier trafen sich morgens 2-3 ältere Schweißer-Oberhäupter, die sich dann in ihre warme Hütte zurückzogen und sich die neuesten Witze erzählten.
Ich als Anlernling holte mir meine armlangen und fußbreiten, 1-2 cm dicken Eisenplatten in einer nicht weit weg gelegenen Werk-Halle, wo mir so Eisenreste gerne und freundlich von den Arbeitern ausgehändigt wurden.
Die Schweißer-Oberhäupter waren zu mir ausgesprochen nett und zeigten mir geduldig, wie man so Platten zusammenschweißt.
Freitag Nacht auf Samstag gab es was ganz Besonderes. Das nannte sich „Rollschicht“. Bei dieser Sache konnte man sich seinen kärglichen Lohn durch eine extra Bezahlung (ich denke, es waren 40 Mark für diese Nacht) aufbessern. Was geschah bei dieser Rollschicht? Hier konnte ich wieder meiner Bewunderung für die unglaublichen Fähigkeiten von Werftarbeitern freien Lauf lassen! Die Leute bauten in einem Affenzahn eine Etage aus Seilen, Balken und Holzbrettern für die nächste Woche der Schweißer- und Nietarbeiten in das hohle nachtdunkle Schiff ein. Ich hing mit einer Hand am Rande der Schiffswand an einer Art festgeschweißtem Eisenbrett mit Eingriffen, die Füße ebenfalls auf solch einem Eisenbrett und unter mir 20, 30 oder noch mehr Meter gähnende Dunkelheit und Leere, und half mit meinem freien Arm, einen Teil dieser 1000 Bretter von Mann zu Mann weiter zu hieven. Um 12 Uhr Mitternacht geschah was ganz Besonderes: Plötzlich war schlagartig Schluss. Man sollte um 1 Uhr weiterarbeiten. Was dann auch geschah. Alles im gleichen rasanten Tempo wie vorher, mit der gleichen Behendigkeit und Artistik der Insider. – Das dauerte genau 1 Stunde. Dann verdrückten sich alle Leute der Rollschicht ohne Abrede, einfach so, still und heimlich in die verschiedensten geheimen Ecken der Werft zum Schlafen. Ich hatte z.B. einmal einen Platz in einer kleinen Halle inmitten schöner warmer Glaswolle gefunden. Komischerweise war ich hier ganz allein.
Bevor ich diese Schweißer-Anlerngeschichte startete, war ich auf dem Reparaturdock als Hilfsschlosser angestellt. Die Schlosser dort waren regelrechte Genies. Ich war hauptsächlich einem jungen Schlosser zugeteilt, der mich in dieses wunderbare Handwerk einführte. Ich lernte den Maschinenraum dieses isländischen Schiffes (mit Namen “Gotenfoss”) kennen, das von grundauf saniert werden sollte. Ich lernte die Bilge des Schiffes kennen: Das heißt, wir krabbelten auf dem Grunde des Schiffsbauchs von Schott zu Schott und die Schlosser überprüften, was davon reparaturbedürftig war. – Zwischendurch wurde ich auch mal von einem Vorarbeiter zu ganz fiesen Arbeiten abgezogen. Es stank dann dort nach altem verfaultem Fisch. Und ich hockte einmal beispielsweise in einer ganz kleinen engen, nach verfaultem Fisch stinkenden Kammer unter Deck und sollte dort eine dicke festgerostete Mutter von einem Gewinde loseisen. Das ging natürlich nicht einfach so mit einem Schraubenschlüssel. Nun wurde mir eine Spezialkunst jener Schlosser für solche vertrackten Fälle beigebracht. Man drückte mir einen dicken Hammer und einen Meisel von oben in mein enges Loch hinein in die Hand. Ich sollte also in diesem Loch, wo ich kaum Raum hatte, um mit dem Hammer auszuholen, jene Mutter mit dem Meisel an der Seite aufspalten, dass sie sich von dem Gewinde löst. – Und was soll ich sagen: das Wunder geschah, die Mutter spaltete sich nach einer ordentlichen Zeit des stetigen Draufhauens, ließ sich schließlich problemlos ablösen und ich konnte meinem engen Loch siegreich entsteigen.
Hannelore
Sie war 23, ich 18. Sie war Arbeiterin, war geschieden und hatte damals eine kleine 3 jährige Tochter und wohnte mit ihr bei ihren Eltern in Finkenwerder. - Wir tanzten abends auf der Reeperbahn exstatisch zur Musik beispielsweise von Paul Anka (Adam and Eve [In the Garden of Eden - a long time ago!] oder You are my Destiny). Außerdem kannten wir ein kleines exotisches chinesisches Hotel ganz in der Nähe der Reeperbahn. Morgends um 6 musste Hannelore unbedingt noch mit dem Schiff nach Finkenwerder zu ihrer Tochter.
Ich selber (im Gorch Fock Park in der Nähe der Elbe)
Hannelore und ihre Schwester im Gorch-Fock-Park; im Hintergrund die sonntägliche Elbe
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Impressionen von Finkenwerder
Das ist der Finksweg. Die beiden Frauen laufen in Richtung des Überseewohnheims (freilich, ohne dort einkehren zu wollen: um Himmels Willen!). - Rechts in dem Haus hatte ich kurze Zeit als Untermieter gewohnt. Ich hatte mich dort als ‘Monteur auf Montage’ eingeschlichen (für 20 Mark die Woche, die ich natürlich immer im Voraus bezahlte). Als ich mal für ein paar Tage wegen meines 19. Geburtstages in der letzten Augustwoche nach Gießen zu meinen früheren Kumpels getrampt war (“Hurra, Hurra, der liebe Jung is wieder da”), hatten meine ultra-korrekten, original Hamburger Vermieter mir danach den Inhalt meiner Briefe vorgehalten, die sie im Schrank vorfanden. Sie wussten also jetzt (unter vielem anderem, vor allem): ich war gar kein Monteur, und wohnte sogar vorher in dem (in jener Straße) hoch beargwöhnten ‘Überseewohnheim’! Daraus folgte: Sofortiger Rauswurf ersten Grades. (Damals war sowas für Vermieter Null-Problem). - Daraufhin schlief ich im Überseewohnheim vorübergehend ab und zu bei einem intelligenten türkischen Ingenieur-Praktikanten auf ausgelegtem Zeitungspapier in seinem Zimmer. Oder manchmal in der Jugendherberge ‘Auf dem Stintfang’ in der Nähe der Landungsbrücken. Bis ich halt was Neues gefunden hatte.
Eigenartige Gerümpelecke in Finkenwerder
Ausflugsboot beim Fischkutterhafen von Finkenwerder
Fischkutter-Anlegestelle + Herbert
Herbert am Köhlfleet - in der Nähe des damaligen Kutterhafens
Altstadt von Finkenwerder
Interessierte Zuschauerinnen unserer Fotografierkünste auf der Straße
Vermutlich an der Aue - vielleicht auch Blick auf die ‘Alte Süderelbe’?
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Finito der Website über Finkenwerder!
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